Sex: der große Unterschied

Wissenschaftler erklären, warum Männer und Frauen so oft aneinander vorbeilieben.

In der guten alten Urzeit lief die Verständigung zwischen den Geschlechtern noch sehr einfach – es gab sie nämlich gar nicht, Mann und Frau waren eins. Ausschließlich eingeschlechtliche Organismen bevölkerten die Erde, lebten selbstselig vor sich hin und hatten alles in sich, was sie für die Reproduktion brauchten. Was sich so angenehm unkompliziert anhört, war aber höchst riskant. Denn abgesehen von einigen Spontan-Mutationen, sind solche Unisexler dazu verdammt, ewig gleich zu bleiben. Verändert sich etwas in der Umwelt (Klima, Ernährung, Raumangebot), geraten sie in Überlebensstress. Also ersann die Evolution irgendwann ein flexibleres Modell: männliche und weibliche Formen, die zusammenkommen müssen, um sich fortzupflanzen. Damit ist in jeder Generation ein neuer Gen-Mix gesichert, also auch mehr Anpassungsfähigkeit. So startete eine der größten Veränderungen, die die Welt je erlebt hat. Der Sex wurde geboren, die Lust, die erotische Spannung – und die Missverständnisse. Bis heute.

Beispiel: ein Mann und eine Frau an einem menschenleeren Strand. Die Liebe der beiden ist jung – ein »Quickie« auf einer Strandliege und eine gemeinsame Nacht im Hotelbett. Tags da-rauf: Sonnenuntergang, rötliches Meer, sanfte Brise – die Zeichen stehen wieder auf Liebe. Aber dann passiert eine dieser kleinen dummen Verhakelungen. »Noch-mal Strandliege gefällig?«, fragt er, meint es witzig, aber ihr ist schlagartig die Lust vergangen. Typisch Mann! Viel zu direkt und technisch diese Frage. Ihm dagegen ist ihre plötzliche Kühle unverständlich. Gestern war doch noch alles klar. Was hat sie nur? Nein, falsch gemacht hat da niemand etwas. Was in solchen Momenten aufeinanderknallt, sind zwei anders laufende hormonelle Räderwerke, zwei andersartig vernetzte Softwares im Gehirn, zwei unterschiedliche genetische Programme. »Wir kommen immer mehr dahinter, dass Männer und Frauen von urzeitlichen Mustern gesteuert werden«, erklärt der amerikanische Genforscher Professor Dean Hamer. »Was die Evolution uns in die Gene geschrieben hat, bleibt auch unter dem Mantel von Kultur und Zivilisation lebendig.« Raffinierte Liebeslehren und psychologische Erkenntnisse hin oder her, wenn es um den Sex geht, passen Mann und Frau zwar in den meisten Fällen anatomisch gut zusammen, aber ansonsten zeigt sich gerade in Sachen Liebe: Sie ticken anders.

Seine Gene, ihre Gene – zwei unterschiedliche Programme. Doch warum, wo sie doch naturgewollt zusammenkommen sollen? Was sind die Unterschiede? Und wie lassen sie sich überbrücken? Typische Beziehungs-Situation: Der Mann kehrt von einer zweitägigen Dienstreise zurück. Schon im Flugzeug denkt er an die kommende Nacht. Stellt sich seine Frau im Hemdchen mit Spaghettiträgern vor (40 Prozent aller Männer denken ohnehin, laut einer Studie des österreichischen Gallup-Instituts aus dem Jahr 1999, mindestens einmal am Tag an Sex, bei Frauen sind es nur 20 Prozent). Insgeheim ist er davon überzeugt, dass auch sie ihm entgegenfiebert. Irrtum. Die Frau begrüßt ihn geradezu beleidigend »normal«. Warum auch nicht? Er war nur kurz fort, der letzte Sex liegt erst drei Tage zurück. Und in erotischer Stimmung ist sie auch nicht, da sie gerade lustmäßig im monatlichen Östrogen-Tief steckt, eben noch Windeln gewechselt hat bzw. gerade vom Job heimgekommen ist. Totalflop. Klassische Vorwürfe auf beiden Seiten. Er: Nie will sie, wenn ich will. Sie: Immer wieder fällt er erotisch mit der Tür ins Haus.

Was sich hier in Wirklichkeit zeigt, ist nicht bilaterale Kompromisslosigkeit, sondern ein genetisches Programm. Wüssten Mann und Frau darum, gäbe es in Beziehungen weniger persönliche Kränkungsgefühle. 1994 entdeckten englische Forscher: Nach einer kurzen Trennung von einigen Tagen produzieren Männer in festen Beziehungen bis zu dreimal so viel Sperma wie Ehemänner, die im gleichen Zeitraum zwar ebenfalls keinen Sex haben, aber zu Hause bei der Partnerin sind. Das mysteriöse Ergebnis wurde inzwischen in mehreren Folge-Untersuchungen bestätigt. Nach Meinung der Wissenschaftler ist hier ein genetisches Vorsichts-Programm am Werk. Schon steinzeitliche Jäger waren oft einige Tage auf »Dienstreise«, z. B. einem Mammut auf den Fersen. Zeit genug für potenzielle Konkurrenten, die zurückgelassene Partnerin zu schwängern. Mit dem Sperma-überschuss soll(t)en »die Samenzellen möglicher Liebhaber aus dem Körper der Frau buchstäblich weggeschwemmt werden«, schreibt der englische Forscher Desmond Morris (in »Das Tier Mensch«, vgs Verlagsgesellschaft, 1995).

Was sich auf zellulärer Ebene abspielt, lässt den Mann auch psychisch nicht kalt, wie eine neue Untersuchung beweist. 692 Männer und Frauen wurden 1999 von einem Psychologenteam um Ted Shackelford von der Atlantic University, Florida, zum Thema Lust und Getrenntsein befragt. Ergebnis: Bei Frauen hat eine kurze Trennung keinen Einfluss auf das Begehren. Bei Männern sehr wohl: Aus der Ferne beschreiben sie ihre Partnerin überdurchschnittlich häufig als »sexy«, »heiß« und »attraktiv«. Tief sitzt der sexuelle Konkurrenzdruck Männern (und Tier-Männchen) in den Genen. Führt zu fiesen Manövern, Manipulationen, Herzinfarkten, Rachetaten, aber ist auch verantwortlich für Schönheit, Farbenreichtum und Formenvielfalt in der Natur. Er hat die überdimensionalen Pfauenschwänze hervorgebracht, (der Pfau mit den meisten »Augen« auf dem Schwanz bekommt am leichtesten ein Weibchen), die luxuriösen Geweihe, mit denen Platzhirsche protzen, und er dürfte in der menschlichen Welt nicht unbeteiligt sein am Umsatz teurer Sportwagen. Parallel zu ihren permanenten Konkurrenzgefühlen haben die Männer von der Evolution übrigens auch ihr sexuelles Leistungsdenken (»War ich gut? Besser als mein Vorgänger?«) in die Gene geschrieben bekommen.

Und das feminine Gegenstück zum genetischen »Macho«-Programm? Dazu gehören all diese »typisch weiblichen« Verhaltensweisen, die für Männer so oft rätselhaft sind, manchmal auch kränkend. Gerade erst veröffentlicht ist eine Stuttgarter Untersuchung über das Flirtverhalten von Frauen, aber sie könnte auch ein paar Tausend Jahre alt sein: Auf wen springen Frauen erstmal spontan an? Auf Männer mit Status. Häuptlinge. Alles nur Berechnung? Keineswegs. Dem Siegertyp unterstellen sie einfach unbewusst, zu Recht oder Unrecht, die besseren Gene.
Haben Frauen ihren Mann dann gefunden, sind sie meist von der für beide Seiten so lästigen Ur-Angst gequält, mit ihren Kindern von ihm verlassen zu werden. Nicht grundlos übrigens. Sexuelle Treue ist von der Evolution bei den meisten Säugetieren genetisch nicht vorgesehen.

In diesem Punkt sind sich Mann und Frau sogar ziemlich ähnlich: Nicht nur, wie früher angenommen, die Männer, sondern beide Geschlechter drängt es danach, die eigenen Gene möglichst breit zu streuen. Dass auch Frauen (und viele Tier-Weibchen) auf »Fremdgehen« programmiert sind, ist bezeichnenderweise erst erkannt worden, seit es mehr Frauen in der Forschung gibt, sagt die amerikanische Anthropologin Sarah Blaffer Hrdy (sprich: Hördy) in ihrem soeben erschienenen Buch »Mutter Natur« (Siedler Verlag, 2000). Eher zufällig wurde beispielsweise bei einer groß angelegten amerikanischen Blutgruppen-Untersuchung entdeckt, dass zehn Prozent der Babys nicht von ihren vermeintlichen leiblichen Vätern stammen. Ob das »Untreue-Gen« allerdings stärker bei Männern als bei Frauen wirkt oder doch die unterschiedliche Erziehung Regie führt, ist ungeklärt – in westlichen Industriestaaten jedenfalls hat ein Mann im Leben durchschnittlich 6,8 Sexualpartner, die Frau 2,7, heißt es im 1999 erschienenen Cora Romance Report (»Das neue Männerbuch«, Bertelsmann Verlag, 1999). Der Ausweg aus dem Dilemma? Spontane genetische Veränderungen in Richtung größerer Kompatibilität der Geschlechter sind beim Menschen kaum zu erwarten. Und sie per Gen-Manipulation zu erzwingen (falls das überhaupt ginge) ist keine gute Idee. Besser: verstehen, warum der Partner/die Partnerin anders ist. Dann fällt es leichter, in der Liebe nicht mehr alles so persönlich zu nehmen!

Mann und Frau müssen wissen: Manchmal ein Herz und eine Seele – aber immer zwei Gehirne! Und das hat Folgen für die Liebe. Das Gehirn ist das wichtigste Lustorgan des Menschen, haben Wissenschaftler herausgefunden. Hier entsteht Begehren, hier werden (Lust-)Empfindungen verarbeitet und (un-)befriedigende Erlebnisse mit dem anderen Geschlecht gespeichert. Das Spannende daran: Auch hier herrscht alles andere als nahtlose Übereinstimmung zwischen Mann und Frau. Dass die rationale linke Gehirnhälfte bei Frauen zur intuitiven rechten bis zu 30 Prozent mehr neuronale Verbindungen hat als bei Männern, ist schon seit etwa dreißig Jahren bekannt. Neuere Untersuchungen belegen, dass die zerebralen Unterschiede noch viel weiter gehen: In ihrem neuesten Buch spricht die berühmte amerikanische Anthropologin Helen Fisher (»The first Sex«, 1999) von Frauen als ganzheitlichen Netz-Denkerinnen (»web-thinking«), Männer dagegen bezeichnet sie als logische Schritt-Denker (»step-thinking«).

Erklärung: Das Männerhirn arbeitet zur Aufgabenlösung klar definiert in einer Gehirnhälfte, im Frauenhirn werden beim gleichen Denkvorgang mehrere Bereiche in beiden Gehirnhälften aktiv. Beides ist eine Folge jahrtausendealter Prägungen. Der Mann favorisiert schnelle, zielgerichtete Entscheidungen (günstig für Jäger, Krieger und Häuptlinge), die Frau baut auf Kommunikation, Spontaneität und Verständigung (vorteilhaft im Umgang mit kleinen Kindern). Der Mann erinnert sich punktuell an wichtige Begebenheiten, die Frau hat insgesamt das bessere Gedächtnis, prägt sich auch Einzelheiten und Gefühle ein. Diese Unterschiede im Gehirn erzeugen nicht nur andersartige Denkweisen bei Mann und Frau, sie bestimmen auch das sexuelle Erleben und Begehren.

Was viele der kleinen und großen Abweichungen erklären kann, an denen sich die Geschlechter häufig ratlos gegenüberstehen. Männer möchten vor allem gute Liebhaber sein (ihr Credo: raffinierte Technik garantiert Erfolg), Frauen träumen von spontanem Sich-Einfühlen (ihre Hoffnung: Gefühle sind das Tor zur Verschmelzung). Der weibliche Weg zum Orgasmus nähert sich serpentinengleich dem Gipfel, der kürzere Anstieg des Mannes schießt pfeilgerade darauf zu. Frauen sind wechselhafter in ihren sexuellen Bedürfnissen (mal geht’s nur romantisch, mal wollen sie es schärfer), männliche Lust springt zuverlässig auf bestimmte Reize an (ein gut proportionierter Frauenkörper kann schon genügen). Frauen können sich auch noch an die Farbe der Bettwäsche nach einer schönen Liebesnacht erinnern, Männer vergessen oft sogar die Augenfarbe ihrer Bettgenossin.

Der Ausweg aus dem Dilemma? Das menschliche Gehirn ist plastisch und hat noch längst nicht ausgelernt. Man kann annehmen, dass es sich auch in Sachen Sex entsprechend neu verdrahtet, wenn sich Mann und Frau häufig genug offen begegnen und vorurteilsfreier lieben können. Denn neue Erfahrungen und Fertigkeiten bringen neue neuronale Verschaltungen. Wie anpassungsfähig das Gehirn ist, wurde beispielsweise gerade bezüglich des Orientierungssinns nachgewiesen: Bei Londoner Taxifahrern, die sich im Straßengewirr der britischen Metropole besonders gut auskennen, hat sich die entsprechende Hirnregion (der Hippocampus) deutlich stärker ausgeprägt als im »Normalhirn« (Untersuchung von Elea-nor Maguire, University College of London, 2000).

Gesprochen werden muss auch von zwei Hormonen – Oxytocin und Testosteron –, zwei Fremde unter einer Decke. Typische Liebes-Situation: Der Orgasmus ebbt gerade aus, die Frau fühlt sich von Zärtlichkeit überschwemmt wie von einer mächtigen Sturmflut, möchte umarmt werden und »nachbeben«. Beim Partner ist bereits Ernüchterung eingetreten. Am liebsten würde er schnell vors TV, um den Rest der Sendung noch mitzubekommen. (Natürlich verkneift er sich das, er will ja nicht als liebloser, gefühlskalter Macho dastehen.) Diese Szene ist so universell wahr, dass sie zum Klischee geworden ist. Und sie wird vermutlich auch in Zukunft zur Liebe dazugehören wie heiße Küsse oder Orgasmusschwierigkeiten. Denn Regie führt hier ein mächtiger hormoneller Unterschied. Der Mann braucht nach dem Orgasmus wirklich Ruhe, seine Hormonproduktion steht vorübergehend auf Baisse. Es ist also kein Mangel an Liebe, wenn er nach dem Sex alles andere als Zärtlichkeit im Kopf hat. Die Frau dagegen steht ausgerechnet jetzt, wo es für ihn vorbei ist, hochgradig unter Einfluss des Sex-Hormons Oxytocin.

Es erzeugt übermächtige Gefühle von Liebe, den Drang, den Partner zu halten, zu drücken und zu »bemuttern«. (Ihr absolutes Oxytocin-Hoch erleben Frauen übrigens gleich nach der Geburt eines Babys.) Zwar kommt auch im Hormonhaushalt des Mannes Oxytocin vor, aber seine Wirkung wird – wie eine Untersuchung von Shelley Taylor an der Universität Los Angeles jetzt gezeigt hat – vom Testosteron weitgehend unterdrückt. (Testos-teron, das wichtigste Männlichkeitshormon, erzeugt sexuelles Draufgängertum, steuert erfreulicherweise den Muskelaufbau, lässt aber leider auch die Haare früher ausfallen). Shelley Taylors Fazit: Dieses Minus an Oxytocin erklärt, warum Männer in Stresssituationen (also auch in Sex- und Beziehungskrisen) eher mit dem Reflex »Kampf oder Flucht« reagieren als die Oxytocin-beeinflusste Frau. Sie setzt gerade in Problemsituationen auf die Taktik »Kontakt aufnehmen«.

Einen weiteren der vielen Geschlechter-Unterschiede beschert das Wohlfühlhormon Serotonin. Bei Frauen kommt seine Produktion deutlich schleppender in Gang als bei Männern. Serotonin ist zwar kein Sexualhormon, spielt aber in der Liebe eine wichtige indirekte Rolle. Es schützt vor Depressionen und Selbstzweifeln, macht mutig bis übermütig. Was das unter anderem fürs erotische Leben bedeutet, haben Alan Feingold und Ronald Mazzella in einer soeben in »Psychological Science« veröffentlichten Studie nachgewiesen. Alle 222 Untersuchungen, die in den letzten fünfzig Jahren zum Thema »Body-Image« durchgeführt wurden, kamen zum selben Ergebnis: Anders als Frauen, die ewig an ihrem Körper herumkritteln, fühlen sich Männer dank Serotonin – egal, wie schön oder weniger schön sie aussehen – sexuell attraktiv. Die männliche Zufriedenheit mit der eigenen Erscheinung erhöht das sexuelle Selbstwertgefühl und ist einer der Gründe, warum Männer, zumindest aus Sicht der Frau, erotisch leicht mal mit der Tür ins Haus fallen (siehe Strandliege-Episode!).

Der Ausweg aus dem Dilemma? Vor dreißig Jahren, auf dem Höhepunkt der Emanzipation und der sexuellen Befreiung von jahrhundertealten Moralvorstellungen, war es modern, vom »kleinen Unterschied« zwischen Männern und Frauen zu sprechen. Alles eine Sache der Erziehung, der unterschiedlichen Sozialisation der Geschlechter, lautete das Credo der damaligen Zeit. Auch von der Wissenschaft wurde Umwelteinflüssen mehr Gewicht beigemessen als den genetischen Voraussetzungen. Das hatte einen riesigen Vorteil: Zum ersten Mal in der Geschichte des westlichen Bewusstseins wurden die Bedeutung ebenso wie die Grenzen kultureller und sozialer Einflüsse auf die Geschlechter klar. Heute dringt die Forschung immer tiefer in die Geheimnisse des Genoms vor. Dabei steigt der Respekt vor den gewaltigen Folgen selbst winzigster Unterschiede im Chromosomen-Bild, wie dem kleinen Zipfelchen, das die weiblichen Geschlechts-Chromosomen XX von den männlichen XY-Chromosomen unterscheidet. Und Respekt vor dem Anders-Sein des Gegenübers – das ist wohl auch in der Praxis die Lösung. Schließlich bringen ja eben diese Unterschiede zwischen den Geschlechtern nicht nur die Missverständnisse, sondern auch die Würze ins erotische Zusammenfinden.

stefanie schwethen

Dieser Text ist ein Großzitat nach § 51 Nr. 1 UrhG