52/2004
Der Traum des Leuchtturmwärters Einstein wusste: Junge Forscher brauchen Zeit und
Ruhe zum Nachdenken. Heute ist Muße im Labor ein Fremdwort. Ein
ZEIT-Forum über Geld und Genie, Pflicht und Verantwortung DIE ZEIT: 2005 feiern wir hundert Jahre
Relativitätstheorie, das Jahr 1905 gilt als Annus mirabilis der
Wissenschaft. Herr Renn, fiel das Genie Einstein einfach so vom Himmel? Jürgen Renn: Einstein fiel nicht einfach so vom
Himmel, seine Durchbrüche hatten einen langen Vorlauf. Man kann sagen:
Einstein stand am Ende der Epoche der klassischen Physik. Er konnte die
Ernte von dem einfahren, was die Meister der klassischen Physik bereits
geleistet hatten. ZEIT: Kann man das mit der Entdeckung der
Doppelhelix 1953 vergleichen? Pauling arbeitete an dem Problem. Erwin
Chargaff hatte wichtige Entdeckungen beigesteuert. Dann fanden Watson
und Crick die Lösung. War 1905 in der Physik die Zeit einfach reif für
den Durchbruch dieser Ideen? Renn: Auch für Einstein lagen die Bausteine seiner
Theorien gewissermaßen bereit. So wird ja heute noch darüber
gestritten, ob Poincaré nicht nahe an der Relativitätstheorie dran war.
Ähnliches gilt für die Lichtquantenhypothese. Paul Ehrenfest hat
praktisch im selben Jahr wie Einstein vorgeschlagen, so etwas wie
Teilchen der Strahlung zu definieren. Einsteins Erfolgsgeheimnis war
sein breites Orientierungswissen. Er hat Problemlösungen gesehen, weil
er weit entfernt scheinende Dinge in Verbindung brachte. Anton Zeilinger: Einstein hat sich schon sehr früh mit philosophischen Werken wie Kants Kritik der reinen Vernunft
auseinander gesetzt. Ich glaube, das war wesentlich mitentscheidend für
seine Theorien. Leider ist diese Art der philosophischen Beschäftigung
in der Physik heute verloren gegangen. Das halte ich für eine
Fehlentwicklung. ZEIT: Sollten junge Naturwissenschaftler also mehr Philosophie studieren? Zeilinger: Es sollte für Physiker durchaus als
positiv gelten, sich mit philosophischen Fragen auseinander zu setzen.
Aber es muss nicht zwingend sein. Es muss auch weiterhin Physiker
geben, die konkrete Materialeigenschaften untersuchen. Dazu braucht man
keine Philosophie. ZEIT: Einstein kannte sich in fast allen Bereichen
der damaligen Physik aus. Ist das für junge Forscher heute noch
vorstellbar, Herr Plefka? Jan Plefka: Das Wissen, das Einstein damals hatte,
lernt ein Physikstudent heute in den ersten drei Semestern. Am Ende der
Promotion hat man sich dann so spezialisiert, dass es keinem von uns
mehr gelingt, den Überblick über das gesamte Spektrum der modernen
Physik zu behalten. Daher halte ich eine Wiederholung einer solchen
Singularität wie Einstein heute nicht mehr für möglich. ZEIT: Jungen Forschern empfahl Einstein eine Stelle als Leuchtturmwärter, um in Ruhe Denken zu können. Wie steht es mit Ihrer Ruhe? Plefka: Mit der Ruhe ist es zunehmend vorbei, je
weiter man voranschreitet. Wir müssen publizieren, produzieren, um den
nächsten Job zu bekommen. Das stört jene Muße, die man braucht, um
wirklich sehr gute, frische, neue Ideen zu bekommen. Man ist dann eher
verleitet, Pfade weiter auszutrampeln, die Leute schon gelaufen sind. ZEIT: Herr Schutz, können Sie Ihren Nachwuchswissenschaftlern Ruhe zum Denken verschaffen? Bernhard Schutz: Ich hoffe, dass sie ein bisschen
Ruhe haben. Ich selbst habe keine Zeit zum Denken. Es ist wichtig,
junge Leute den Druck nicht so stark spüren zu lassen. Aber er ist da.
Wenn ihr Vertrag ausläuft, brauchen sie einen neuen Job. Ihr Erfolg
hängt davon ab, was sie getan haben. ZEIT: Einstein war sozusagen Privatgelehrter, als
er seine bahnbrechenden Arbeiten publizierte. Hätte er als solcher
heute noch eine Chance? Zeilinger: Einstein war gezwungen, vollkommen
unabhängig zu sein. Das ist für mich ein ganz wesentlicher Input zum
Erfolg. In unseren Universitätssystemen kommen die jungen Leute viel zu
spät zum selbstständigen Arbeiten. Bei uns in Österreich muss man ein
Diplom machen und dann das Doktorat. Ich sehe überhaupt nicht ein,
warum gute Leute nicht gleich den Doktor machen sollten, warum Leute
mit 25 von einem Professor abhängig sein müssen und damit kaum die
Chance haben, sich eigenständig zu entwickeln. ZEIT: Publikationen werden heute vor dem Druck streng kontrolliert. Käme ein Patentexperte dritter Klasse heute bei Nature oder bei Science durch? Renn: Die Physikergemeinde war damals klein. Wenn
es irgendwo einen Außenseiter gab, wurde man relativ schnell auf ihn
aufmerksam. Planck hat einmal gesagt, Einstein sei seine größte
Entdeckung gewesen. Die Physik ist heute enorm gewachsen. Die
Auswahlkriterien für Publikationen sind weitgehend formalisiert. Das
macht es in der Tat schwieriger, mit einer unkonventionellen Arbeit in
solche Zeitschriften hineinzukommen. Aber wir haben mit dem Internet
völlig neue Möglichkeiten, wissenschaftliche Informationen zu
kommunizieren. Eigentlich können wir die alten Kanäle aufgeben
zugunsten eines völlig neuen Publikationssystems, das
enthierarchisierend wirkt, bei dem auch junge Forscher wieder eine
Chance haben, ihre Arbeiten zu veröffentlichen. ZEIT: Einstein war auch einer der ersten
Popularisierer von Wissenschaft. So hat er Normalbürgern gerne die
Relativitätstheorie erklärt. Warum? Renn: Ich glaube, er hat selber so viel gewonnen
aus populärwissenschaftlicher Lektüre, dass er sich als Teil einer
Kultur fühlte, in der zu Wissenschaft die Vermittlung von Wissen
gehörte. Er hat zum Beispiel die Naturwissenschaftlichen Volksbücher von
Aaron Bernstein gelesen. Das war eine fantastische Enzyklopädie, die in
die Welt der Wissenschaft einführte und ihn faszinierte. ZEIT: Sollten auch heute Forscher ihre Arbeit mehr populärwissenschaftlich vermitteln? Zeilinger: Es ist eine Pflicht, das möchte ich
nicht bestreiten. Mein persönliches Motiv ist ganz simpel. Mich
fasziniert die Physik so, dass ich mir denke, andere sollen auch davon
wissen und sich am Kopf kratzen, weil wir gewisse Dinge einfach nicht
verstehen – und die sind gerade spannend. Wenn man ein populäres Buch
schreibt, wird man selbst gezwungen, über manches klarer nachzudenken. ZEIT: Das Phänomen der Teleportation, das Sie
erforschen, bezeichnete Einstein einmal als »spukhafte Fernwirkung«.
Was würde er sagen, wenn er sähe, dass man den Spuk sogar nutzen kann? Zeilinger: Ich wage nicht für Einstein zu
antworten. Wahrscheinlich würde er genau hinsehen, wo noch ein
Schlupfloch ist für seine Skepsis. Das wäre faszinierend. Faszinierend
ist auch, dass diese Experimente aus reiner Neugier gestartet wurden,
als Test, ob Einstein in seinen philosophischen Ansichten über die
Natur der Welt Recht behält: Ist die Welt, wie wir sagen, lokal und
realistisch, existiert sie unabhängig von uns in all ihren
Eigenschaften? Die Antwort ist: Nein! Und diese Experimente führen
jetzt plötzlich, völlig überraschend, zu Ideen für eine neue
Technologie: Quantencomputer, Quantenkryptografie und so weiter. ZEIT: Herr Schutz, Sie sind auf der Jagd nach
Gravitationswellen. Dazu gibt es eine Reihe von Detektoren rund um den
Globus. Falls Sie die Gravitationswellen nachweisen, wäre das im
Prinzip der letzte Triumph für Einstein? Schutz: Es ist seine letzte große Vorhersage, die
noch nicht direkt bestätigt ist. Wir haben keinen Zweifel, dass diese
Gravitationswellen existieren. ZEIT: Stimmt es, dass eine Gravitationswelle, die
beim Zusammenstoß zweier Schwarzer Löcher entsteht, so schwach ist,
dass sie ein Lineal, das von der Erde bis zur Sonne reichte, nur um die
Stärke eines Atoms stauchen würde? Schutz: Ja. Die Wellen sind schwach, und die
Messtechnik ist kompliziert. Gravitationswellenforschung erfordert
große Teams, auf unseren Publikationen stehen 400 Autoren. Da ist es
schwierig für Nachwuchsforscher, sichtbar zu werden. Das hat sich seit
Einsteins Zeiten sehr verändert. Zeilinger: Wenn Reporter zu uns kommen, sage ich
stets, dass unsere Arbeit die Leistung eines ganzen Teams ist. Doch das
wird von den Medien ungern aufgenommen. Die sagen, man muss Geschichten
von Menschen erzählen. Dadurch entsteht aber ein falscher Eindruck in
der Öffentlichkeit. Das gefällt mir nicht. Auch durch Preise entsteht
ein falscher Eindruck. Der Nobelpreis wird häufig für eine Leistung
verliehen, die ein Team erbracht hat. Es ist eben eher der
Ausnahmefall, dass der Ruhm einer Einzelperson zukommt. ZEIT: Falls zu Ihnen ein junger Mensch käme, bei
dem Sie das Gefühl hätten, er sei vom Talent her Einstein vergleichbar,
was würden Sie ihm raten? Den Gang durch die Institutionen des
Wissenschaftsbetriebes zu gehen und all die Widrigkeiten und Zwänge auf
sich zu nehmen, die Herr Plefka beschrieben hat? Oder einen Job im
Patentamt? Schutz: Ich würde ihm einen Arbeitsbereich mit einem bisschen Freiheit geben und sagen: Spiel! Renn: Aber Sie brauchen natürlich für Ihre
Publikation mit 400 Autoren viele Leute, die andere Aufgaben
übernehmen. Wenn alle nur spielen… Schutz: Die sind ja nicht alle Einstein. Die Physik
braucht vielerlei Menschen. Einige sind Einstein. Sie müssen ihren
Raum, ihre Zeit für Spiele haben. Andere sind Teamarbeiter. Andere sind
gute Organisatoren. Wir brauchen alle. Plefka: Ich glaube, das ist eine Kulturfrage. Im
Bereich der theoretischen Physik, wo ich arbeite, ist man viel
unabhängiger. Da sagt einem kein Professor, woran man arbeiten soll,
insbesondere nicht nach der Promotion. Die Möglichkeit zu spielen ist
da, aber das Risiko besteht, dass man nach zwei Jahren ohne Job dasteht. ZEIT: Wie kann ein Nachwuchswissenschaftler heute noch berühmt werden? Einstein hatte es da offenbar leichter. Renn: Einstein ist in einem bestimmten historischen
Moment zum Weltstar geworden, nämlich 1919. Nach dem Ersten Weltkrieg
war Deutschland stark isoliert. Einstein, ein deutscher Wissenschaftler
jüdischer Herkunft, war noch hoffähig im Ausland, während andere, etwa
Max Planck, sehr unbeliebt waren, weil sie nationalistische Aufrufe für
den Krieg unterschrieben hatten. Einstein dagegen konnte in der
Weimarer Republik nach Paris reisen und wurde dort als ein demokratisch
gesinnter Wissenschaftler empfangen. Das hat ihn zu einer Symbolfigur
gemacht. Seine schillernde Gestalt und die Tatsache, dass seine Theorie
über Raum und Zeit Dinge ansprach, die dem Alltagsverständnis nahe
lagen, haben auch viel beigetragen. Dazu kam später seine Emigration,
die Atombombengeschichte und so weiter. Es gibt sozusagen Schichten in
dem Mythos Einstein, die mit ganz unterschiedlichen zeithistorischen
Umständen zu tun haben. ZEIT: Herr Zeilinger, Sie sind sehr populär für einen Physiker. Glauben Sie, man versteht Ihre Arbeit? Zeilinger: Ich habe keine Ahnung, ob mich die Leute
verstehen oder nicht. Da möchte ich nichts dazu sagen. Aber in einem
Punkt muss man als Wissenschaftler vorsichtig sein: Man darf sich nicht
verleiten lassen, zu allem und jedem Stellung zu nehmen, bloß weil die
Medien oft anklopfen. Da bin ich sehr rigoros. Ich sage nur etwas zu
Dingen, zu denen ich mich fachlich berufen fühle. Zur Pisa-Studie zum
Beispiel, nach der man mich auch gefragt hat, habe ich keine Stellung
genommen, weil ich mich dazu einfach nicht berufen fühle. ZEIT: Einstein hat sich auch zu vielen politischen
Fragen geäußert, die nichts mit der Relativitätstheorie zu tun hatten.
Sind die Forscher heute unpolitischer, und wie politisch dürfen sie
sein? Renn: Wenn Herr Zeiliger als Quantenphysiker
aufgefordert wird, zur Pisa-Studie Stellung zu nehmen, verstehe ich
seine Reaktion. Wird man aber als prominenter Bürger gefragt, sieht die
Sache anders aus. Einstein war in einer Ausnahmesituation. Er war
extrem berühmt und wurde zu allem gefragt. Er hatte das Gefühl, seine
Stimme erheben zu müssen, um etwa den von den Nazis vertriebenen
Emigranten in Amerika zu helfen. Einstein hat den besten Gebrauch von
seinem Ruhm gemacht. Ich glaube, wir kommen auch heute nicht darum
herum, Themen wie Stammzellforschung oder den offenen Zugang zu
Informationen im Internet zu diskutieren. Wir dürfen nicht erwarten,
dass nur die Politiker sie für uns entscheiden. Wenn wir uns als
Wissenschaftler nicht in unseren eigenen Belangen engagieren, können
wir auch nicht zu Lösungen beitragen. ZEIT: Wünschen Sie sich ein stärkeres gesellschaftspolitisches Engagement von Forschern? Renn: Das heutige Wissenschaftssystem ist sehr viel
komplexer und auch sehr viel schwerer zu verstehen als früher. Wichtig
wären daher ein Orientierungswissen, ein größerer Überblick und ein
Verständnis für die Dynamik dieses komplexen Systems. Ich glaube, das
könnte ein Beitrag des Einstein-Jahres sein. Das ist ja nicht nur dazu
gedacht, diese große Persönlichkeit zu feiern, sondern ist hoffentlich
auch ein Anlass, dieses Bewusstsein und vor allem auch jenes Wissen zu
stärken, das notwendig ist, um Verantwortung auszuüben. Das Gespräch moderierten Ralf Krauter (Deutschlandfunk) und Andreas Sentker (Die Zeit) Die Teilnehmer Jürgen Renn ist Direktor am Max-Planck-Institut
für Wissenschaftsgeschichte in Berlin und ausgewiesener
Einstein-Kenner. Gegenwärtig bereitet er die größte
Einstein-Ausstellung des kommenden Jahres in Berlin vor. Anton Zeilinger leitet das Institut für
Experimentalphysik der Universität Wien. Er wurde 1997 durch das
»Beamen« von Lichtteilchen, die Quantenteleportation, weltbekannt. Bernard Schutz ist Direktor am Max-Planck-Institut
für Gravitationsphysik (Albert Einstein Institut) in Golm bei Potsdam.
Dort forscht er über Gravitationswellen, den letzten fehlenden Beweis
für Einsteins Theorien. Jan Plefka ist Nachwuchswissenschaftler am Albert
Einstein Institut. Er will jene Formel finden, nach der Einstein ein
Leben lang suchte: die große einheitliche Theorie, vulgo Weltformel.